Das Literaturportal Bayern, betrieben vom Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und der Bayerischen Staatsbibliothek, bringt seit einem Jahr in loser Folge in seiner Reihe „Deutsch-jüdische Gespräche“ deutschsprachige jüdischen und nichtjüdische Schreibende und Kunstschaffende ins Gespräch, um»angesichts eines zunehmend aufgeheizten und toxischen Kommunikationsklimas […] einen Raum der deutsch-jüdischen Gespräche [zu} eröffnen«. In dieser Reihe unterhielten sich im August Rainer René Mueller und der in Russland geborene, in Deutschland lebende und hauptsächlich auf Deutsch schreibende Boris Shumatsky.
Das Gespräch ist lang, gut 3300 Wörter lang, und man erfährt einiges über Biographie und Lebensumstände von Rainer René Mueller sowie über die subjektive Lage von Menschen im heutigen Deutschland, die jüdischen Bezug oder jüdische Wurzeln haben.
Einige Auszüge:
MUELLER: Die Großmutter hat das gemacht. Die Mutter wusste nicht, dass sie jüdisch ist. Die Großmutter hat es ihren Kindern verschwiegen.
SCHUMATSKY: Unglaublich!
MUELLER: Mir har sie es dann gesagt. Also eine Generation übersprungen. Das war das Problem, und auch mir hat sie aufgetragen, nicht drüber zu sprechen, so dass ich jahrelang das Wissen verschweigen musste aus Neigung und aus Vertrauen zur Großmutter. Ich konnte ja die Fremdheit in meinem eigenen familiären Zuhause nie auflösen. Das hatte auch mit der unehelichen Geburt zu tun. Du musst dir vorstellen, das war unmittelbar nach dem Krieg in der Bundesrepublik. Das war eine unglaubliche Schande, eine Flüchtlingsfrau, die ein fremdes Kind austrägt.
SCHUMATSKY: Und auch noch jüdisch ist.
MUELLER: Ja. Ich habe für mich dann schon meine Regelung gefunden, aber später erst.
SCHUMATSKY: Fühlst du dich bedroht?
MUELLER: Mittlerweile ja. Ich fühle mich bedroht. Seit knapp eineinhalb Jahren hat sich hier irgendwas geändert und natürlich jetzt sehr stark seit dem 7. Oktober. Da hat sich ja alles hier gedreht. Ich bin früher mit der Kippa alleine in die Stadt gegangen, das traue ich mich heute nicht mehr. Ich gehe noch mit der Kippa, aber nicht, wenn ich alleine bin. Und schau mal, ich bin ja mittlerweile so krank, ich kann ja gar nicht alleine aus dem Haus. Ich bin ja hier tagelang ans Haus gebunden. Und ich war jetzt seit vergangenem November zum dritten Mal zwei Tage außer Haus, da war ich in Straßburg. Wenn ich zum Arzt muss, dann bin ich aber in Begleitung und dann bin ich vielleicht zwei, drei Stunden unterwegs. Dann bin ich so erschöpft, dann muss ich wieder nach Hause. Alleine kann ich gar nicht das Haus verlassen.
SCHUMATSKY: Du hast einmal von deiner inneren Distanz zur Simulations-Lyrik unserer Zeit, wie du sie nennst, gesprochen. Könntest du das näher ausführen?
MUELLER: Da müsste ich jetzt Beispiele nennen, ich müsste Namen nennen. Oder nein, ich müsste keine Namen nennen. Was ich unter Simulations-Lyrik oder Lyrik-Simulation verstehe, wie soll ich das beschreiben? Es sieht aus wie Gedichte, aber es sind keine Gedichte. Es hat keine Form, es ist ein Nachgeschwätz, ein biografisches Nachgeschwätz. Es ist eine Umformung von zeitgenössischen Zeitungsmeldungen, es ist opportunistisches Geschreibe. Oft ist es so, dass die einzelnen Passagen oder Teile oder Verse oder wie man auch immer das nennen will, viele sachliche Fehler enthalten. Es trifft auch renommierte, also jüngere – ja, gut, ich bin ja alt mittlerweile – aber das betrifft doch eine ganze Reihe mittelalter Autorinnen oder Autoren oder Dichter – wobei ich unterscheide zwischen Autoren und Dichtern – die einfach etwas schreiben und nicht überlegen, ob das richtig ist, also sachlich richtig ist, worauf sie sich beziehen. Und wenn ich solche Dinge lese, dann spüre ich die Absicht, die dahintersteckt. Andersrum: Für mich hat Lyrik mit der biografischen Verankerung des Kunstwillens im Sinne eines Überlebens in der eigenen Gegenwart zu tun. Und das stellt solche hohen Anforderungen an das Verlangen nach Kunst. Ich schaue mir schon an, was da erscheint und was da gedruckt wird …